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Titel
Florence. Capital of the Kingdom of Italy, 1865–71


Herausgeber
Poettinger, Monika; Roggi, Piero
Erschienen
London 2020: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XIV, 361 S.
Preis
£ 28.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Schumacher, Landesarchiv Sachsen-Anhalt

Das Verhältnis der Toskana und insbesondere der Hauptstadt Florenz zur italienischen Nationalstaatsgründung war von Anfang an ambivalent. Die toskanische, vom lokalen Patriziat dominierte liberal-konservative Elite der sogenannten Moderati zielte zunächst auf die Stärkung ihrer eigenen Position innerhalb der von Großherzog Leopold II. aus dem Hause Habsburg-Lothringen regierten Toskana. Dabei standen der Erhalt der toskanischen Autonomie sowie die Eindämmung demokratischer Forderungen nach politischer Teilhabe breiterer Bevölkerungsschichten im Vordergrund, um innenpolitische Reformen sowohl gegen die österreichische Hegemonialmacht als auch gegen radikale nationaldemokratische Ansprüche abzusichern. Das Projekt eines italienischen Einheitsstaates befand sich dabei vorerst nicht auf der Agenda, lediglich theoretische Überlegungen einer italienischen Staatenkonföderation.1 Erst spät schlossen sich die toskanischen Moderati der Nationalbewegung unter Führung Sardinien-Piemonts an, die in die italienische Nationalstaatsgründung 1861 mithilfe von zuvor durchgeführten Anschlussplebisziten in den mittelitalienischen Staaten, Annexionen von Teilen des Kirchenstaates und der Niederwerfung des Königreichs beider Sizilien mündete. Hierfür war jedoch die Billigung Napoleons III. erforderlich, um ein Eingreifen Habsburgs auf Seiten der entmachteten Fürsten zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund schloss das Königreich Italien mit Frankreich 1864 die sogenannte Septemberkonvention ab, die als Bedingung für den Abzug der französischen Truppen aus dem Kirchenstaat dessen Erhalt garantierte und die Verlegung der Hauptstadt von Turin nach Florenz vorsah. Von Anfang an gingen zeitgenössische Beobachter jedoch davon aus, dass eine erneute Hauptstadtverlegung nach Rom erfolgen würde, sobald die politische Großwetterlage dies hergab. Und so blieb die Zeit von Florenz als Hauptstadt Italiens nur eine Episode (1865–1871). Der deutsch-französische Krieg 1870 ebnete dem Königreich Italien den Weg nach Rom.

Die vorliegende Aufsatzsammlung stellt nun das Ergebnis eines breit angelegten Forschungsprojekts anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Stadt Florenz als Hauptstadt Italiens dar und wurde bereits 2017 auf Italienisch veröffentlicht. Mit der 2019 erfolgten Veröffentlichung auf Englisch soll jetzt auch ein internationales Publikum erreicht werden. Dazu sind die Beiträge drei Kapiteln zugeordnet. Das erste Kapitel behandelt kulturelle und politische Aspekte, das zweite Kapitel stellt das damalige öffentliche Leben und seine Plätze vor. Das dritte Kapitel, das zugleich den thematischen Schwerpunkt des Sammelbandes darstellt, widmet sich konsequent den wirtschaftlichen Entwicklungen und ihren Folgen für die florentinische Gesellschaft. Die ersten beiden Kapitel dienen im Grunde lediglich als Einführung in die wirtschaftshistorischen Betrachtungen.

Dementsprechend bieten die Beiträge des ersten Kapitels wenig Neues und richten sich in erster Linie an diejenigen Leser, die sich mit der Geschichte der Toskana bislang weniger befasst haben. Hier dreht sich alles um den barone Bettino Ricasoli, der als zweimaliger Premierminister (1861–1862 und 1866–1867) in den Anfangsjahren des Königreichs Italien die herausragende toskanische Gestalt der historischen Rechten (destra storica) war. Eingebettet wird die politische Betrachtung in eine kursorische Übersicht zur damaligen Publizistik und zu wichtigen künstlerischen und wissenschaftlichen Projekten jener Zeit.

Mit knapp 50 Seiten Umfang gerät das zweite Kapitel, das sich mit dem Leben in der italienischen Hauptstadt befasst für den Geschmack des Rezensenten zu kurz. Denn gerade hier erfährt der Leser mehr über die Konsequenzen der Hauptstadtverlegungen zunächst nach Florenz und sechs Jahre später nach Rom. Zeffiro Ciuffoletti und Maria Grazia Proli schildern hier „Popular Life in the Streets of Florence“. Die Florentiner Stadtgesellschaft zeichnete sich dadurch aus, dass Patrizier und einfache Leute in enger Nachbarschaft zueinander wohnten (S. 110). Die Verkäufer boten ihre Waren direkt in der Innenstadt an, und die Handwerker arbeiteten in erster Linie für die Oberschicht, kirchliche Einrichtungen und Hospitäler (S. 112). Mit der Verlegung der Hauptstadt nach Florenz führten steigende Wohnkosten bei stagnierenden Einkommen zu einer massiven Gentrifizierung, während die Infrastruktur rückständig blieb. Für eine weiterführende Beschäftigung mit der Florentiner Gesellschaft unter Netzwerkaspekten ebenso wie zu touristischen Zwecken eignet sich dagegen die von Maria Carla Monaco aufbereitete Übersicht A Stroll around Florence: Places of Power, Places of Leisure.

Das dritte und eigentliche Hauptkapitel des Sammelbandes wird von Andrea Giuntini eingeläutet („An Economy Stuck at the Crossroads to Modernity“). Unwillkürlich fühlt sich der Leser hier an heutige Probleme erinnert, wenn Giuntini die mit der Hauptstadtverlegung nach Florenz einhergehende Immobilienspekulation beschreibt. Ladenlokale wurden für Cafés und Läden modernisiert und die Immobilienpreise erhöht. Um der Wohnungsnot beizukommen, verkaufte die Stadt Baugrundstücke preisgünstig an Bauunternehmer, die jedoch vorwiegend Wohnungen für Funktionäre des italienischen Staates, die es sich leisten konnten, errichteten, während die Handwerker, die das Stadtbild zuvor geprägt hatten, an die Peripherie gedrängt wurden. Auch eine von Leopoldo Galeotti, einem prominenten Vertreter der Moderati, geleitete Baugesellschaft für sozialen Wohnbau zielte mit ihren Bauprojekten lediglich auf die solvente Mittelklasse ab (S. 168f.). Die Erfüllung städtischer Aufgaben wurde ebenfalls privatisiert: Beleuchtung, Müllabfuhr und Abwassersystem (S. 171).

Selbstredend hatten diese Privatisierungsmaßnahmen auch Gewinner. Wie Daniela Manetti („Florentine, Italian and Foreign Entrepreneurs in the Urban Renewal of Florence“) zeigt, nutzten einige Moderati die Hauptstadtzeit, um mit der Società Anglo-Italiana, unterstützt durch die Anglo-Italian Bank, ein gut funktionierendes System der Vetternwirtschaft zu betreiben. Es wurden Kredite aufgenommen und öffentliche Aufträge zum Wohnungsbau unter dem Vorwand der Dringlichkeit ohne Ausschreibung vergeben (S. 179f.).

Trotz der zunächst negativen Folgen, gelangt Monika Poettinger in ihrem Beitrag „Entrepreneurs and Enterprises in and around Florence“ zu einer positiven Bewertung der Hauptstadtzeit von Florenz, die sie mit der Öffnung der Märkte und einer Modernisierung der lokalen Wirtschaft begründet (S. 193). Der Zufluss von ausländischem Kapital förderte insbesondere den Bergbau (S. 195). Gleichzeitig blieb jedoch die weiterhin auf Heimarbeit basierende Textilindustrie ein wichtiger Faktor (S. 196). Während der Kapitalzufluss in den 1860er-Jahren zu vornehmlich spekulativen Zwecken den Bankensektor stärkte, zielten wichtige Investitionen auch auf eine Modernisierung der Produktionsverhältnisse, um lokale Absatzmärkte zu bedienen. Dennoch blieb die Toskana auch in den 1870er-Jahren, nach der erneuten Hauptstadtverlegung nach Rom, eine agrarisch geprägte Region, deren Unternehmerschaft erneute Spekulationsblasen fürchtete und sich auf den Binnenmarkt konzentrierte. Poettingers Fazit, dass sich Florenz zu einer „Stadt fleißiger Bienen entwickelt habe, die Skandale, Korruption und Betrug der neuen Hauptstadt Rom überlassen habe“ (S. 208) ist indes überraschend. Hier scheint sich Poettinger dann doch das Toskana-Bild der Moderati zu eigen gemacht zu haben, die in Anlehnung an Sismondi ihr System des Klientelismus und der Halbpacht damit rechtfertigten, die Verwerfungen der Industrialisierung, die nicht ohne weiteres auf die Toskana zu übertragen sei, zu vermeiden.2 Korruption und Vetternwirtschaft waren jedoch durchaus keine Phänomene, die Florenz von außen aufgezwungen wurden, sondern bewährte Instrumente der toskanischen Elite, ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung zu behaupten.

Der Sammelband bietet einen ersten Einstieg für eine wirtschaftshistorische Auseinandersetzung mit der Stadt Florenz während der Anfangsjahre des italienischen Nationalstaates. Die Beiträge geben aufschlussreiche Einblicke in die wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Erfahrungen der toskanischen Elite während jener Zeit. Die Hauptstadtzeit und der daraus resultierende Bankrott des Jahres 1878 führten zu einer grundlegenden Skepsis gegenüber Freihandelstheorien und einem erneut aufkommenden protektionistischen Ansatz. Leider wird das wirtschaftspolitische Handeln der toskanischen Eliten lediglich kursorisch kontextualisiert. So wäre es naheliegend gewesen, nicht nur den Weg in den Bankrott von Florenz einerseits und die Modernisierung der lokalen Produktion andererseits zu beschreiben, sondern das politische und wirtschaftliche Handeln der toskanischen Elite auf seine Zielsetzung hin zu untersuchen. Zwar wird darauf verwiesen, dass die toskanischen Moderati die Hauptstadtzeit nutzten, um ihre Position innerhalb der italienischen Elite zu festigen (S. 189), allerdings wird nach Ansicht des Rezensenten zu unkritisch das Narrativ einer toskanischen Elite, die sich bereitwillig in den Dienst des Königreichs Italien stellt und dafür die wirtschaftlichen und sozialen Probleme einer temporären Hauptstadt in Kauf nimmt, übernommen. Schließlich hatten die toskanischen Moderati den Weg in den Nationalstaat erst konsequent beschritten, als er für ihren eigenen Machterhalt innerhalb der Toskana nützlich war.3 Ebenso wenig wird der toskanische Anspruch, in puncto Kultur und Sprache für Italien identitätsstiftend zu wirken, hinterfragt. Außertoskanische Perspektiven werden kaum berücksichtigt.

Mit dem Sammelband illustrieren Poettinger und Roggi Florenz als Hauptstadt Italiens unter vornehmlich wirtschaftshistorischen Aspekten aus dezidiert florentinischer Perspektive. Damit vermitteln sie dem Leser einen aufschlussreichen Blick hinter die bekannte Fassade der Kulturmetropole Florenz und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende Untersuchungen zu kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit unter den sich in kurzen Zeitabständen verändernden Rahmenbedingungen.

Anmerkungen:
1 Thomas Kroll, Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 90), Tübingen 1999, S. 2.
2 Agliaia Paoletti Langé, Gino Capponi. Un Fiorentino Europeo. Riflessioni per un profilo (Centro di Studi sulla Civiltà Toscana fra ’800 e ’900 16), Florenz 2000, S. 80f.; Carlo Pazzagli, Sismondi e la Toscana del suo tempo (1795–1838), Siena 2003, S. 240–247.
3 Kroll, Revolte, S. 348–365.

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